Silicon Valley statt Rust Belt - Rainer >Mertel 20/10/20

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Source: DVZ

 

Artikel
von Heinrich Klotz

 

 

 

 

 

Silicon Valley statt Rust Belt

20. Oktober 2020

Er hat fast 40 Jahre in der Branche gearbeitet. Die einzige disruptive Veränderung im intermodalen Verkehr Europas aber hat Rainer Mertel verpasst: die Einführung des Containers in den 60er Jahren.

Das heißt aber beileibe nicht, dass die 40 Jahre langweilig waren. So war Mertel mit dabei, als ab Anfang der 90er Jahre die Operateure die wirtschaftliche Verantwortung für die Züge auf ihre Kappe nahmen – und damit auch die Gestaltung des Ganzzug-Angebotes auf der Schiene. Diesem positiven Highlight stellt der langjährige Kombiverkehr-Manager das Thema Qualität als Negativum gegenüber: „Die frühere Deutsche Bundesbahn beispielsweise war deutlich pünktlicher als die heutige DB Cargo.“ Da hilft es nichts, dass auch andere Eisenbahnen in Europa es nicht besser machen.

Der Vergleich mag zwar nicht ganz fair sein, da vor 30 Jahren die Netzbelastung durch vertaktete Züge im Fern- und Regionalverkehr geringer war. Die staatlichen Eisenbahnen und ihre Eigentümer müssen sich aber fragen lassen, warum in dieser Periode nicht in Mehrkapazität, verbesserte Technologien und Betriebsprozesse investiert wurde, um die Logistikwirtschaft zuverlässig bedienen zu können.

Mertel führt diese Entwicklung auch auf die Liberalisierung der Schiene in den 90er Jahren zurück. Infrastruktur und Betrieb sollten getrennt und mehr Wettbewerb geschaffen werden. Die Liberalisierung blieb aber auf halbem Wege stecken, als Netz und Frachtbahn unter einem Dach angesiedelt wurden. „Das war der Beginn von organisierter Verantwortungslosigkeit. Jeder schiebt dem anderen den Schwarzen Peter für unpünktliche Züge zu, muss aber letztlich nicht dafür geradestehen.“ Auf der Strecke bleiben Qualitätsanspruch und Produktivität.

Kein Verständnis für Logistikpläne

Laut dem Kombi-Experten, der über 20 Jahre auch das Beratungsunternehmen Kombiconsult führte, liegt dies auch daran, dass sich die nationalen Cargobahnen nicht für eine klare Marktpositionierung und ein dauerhaftes Geschäftsmodell entscheiden können. „Mal wollen sie Partner für die intermodalen Operateure sein, mal aber auch in Logistik machen und direkt Leistungen an Spediteure oder Verlader vermarkten.“ Wenig Verständnis hat Mertel deshalb für die Pläne von DB Cargo, ihr Heil wieder stärker in der Logistik zu suchen. Das Kernargument für diese Strategie überzeugt ihn nicht. „Sie sagen, sie wollen sich nicht auf die Rolle des Carriers reduzieren lassen. Ich frage: Warum eigentlich nicht? Sie sollen einfach einen richtig guten Job als Carrier machen – das sollte doch ihre Kernkompetenz als Eisenbahn sein!“

Mertel sieht aber auch noch Luft nach oben bei den Operateuren. Anstelle von standardisierten und kundenorientierten Prozessen, mit denen mindestens 90 Prozent aller Transporte abgewickelt werden könnten, brächten sie unnötig Komplexität in ein vergleichsweise einfaches Produkt. Das sorge für Reibungsverluste – „da kann in der Zusammenarbeit mit den Bahnen noch vieles besser laufen“.

Staatsgrenzen bremsen Züge aus

Viel Kapazität und Produktivität auf der Schiene geht aber nach wie vor an den Staatsgrenzen verloren. Denn völlig ungeachtet von Freizügigkeit und milliardenschweren Schienenkorridoren in Europa „klappt die Koordination zwischen den nationalen Netzen weiterhin überhaupt nicht“, kritisiert Mertel. Auch bei der Interoperabilität seien in den letzten 15 Jahren kaum Fortschritte erreicht worden. Wenn etwas funktioniere, dann nur über aufwendige Bypass-Lösungen wie Multisystem-Loks oder mehrsprachige Lokführer.

Mertel führt das auch darauf zurück, dass die Rail Freight Corridors zu „bürokratischen Monstern“ mit einer Vielzahl von Managementeinheiten degeneriert seien. Bei der anstehenden Revision der entsprechenden EU-Verordnung solle die Kommission darauf dringen, „dass die Netzbetreiber klare Vorgaben bekommen, bis wann Technologien oder Betriebsregeln harmonisiert sein müssen“. Nicht zuletzt sollten für den hochwertigen intermodalen Güterverkehr ausreichende und durchgehende internationale Trassen ausgewiesen werden. Wenn die EU-Mitgliedstaaten, die letztlich entscheiden, hier nicht mitspielen, „sind die Schienenfrachtkorridore auch überflüssig“.

Gute und schlechte Verkehrspolitik

Speziell der Kombinierte Verkehr wird in Europa auch durch eine nicht konsistente Verkehrspolitik ausgebremst. Der Kombi-Experte verweist auf das vor kurzem verabredete erste Mobilitätspaket, das es demnächst nationalen Regierungen erlaubt, bei Bedarf Vor- und Nachläufe zu internationalen Verkehren als Kabotageverkehr einzustufen – mit entsprechenden Restriktionen für ausländische Anbieter. „Damit werden faktisch Fortschritte zunichte gemacht, die wir vor vielen Jahren errungen haben“, sagt Mertel. Und das treffe nun ausgerechnet den unbegleiteten Kombinierten Verkehr – die wirtschaftlichste Variante überhaupt.

Gibt es denn auch Beispiele gelungener Politik aus Sicht des Kombi-Experten? Mertel überlegt einen Moment – und ja: Ihm fällt etwas ein. Nämlich die Entscheidung Deutschlands, auf Bundesebene die Terminalinfrastruktur massiv zu fördern: „Das ist in meinen Augen die beste Möglichkeit, diese Verkehre zu unterstützen, und diejenige, die das geringste Diskriminierungspotenzial hat.“

Wer hingegen auch den Betrieb fördere – wofür einiges spreche, solange die Straße nicht alle ihre sozialen Kosten trage –, laufe immer Gefahr, den Wettbewerb zu verzerren. Außerdem, großer Kritikpunkt, würden damit die Preise auf der Schiene künstlich nach unten gedrückt, statt sie nach oben zu bringen – „da spielt man schon das Spiel der ruinösen Konkurrenz mit“, warnt Mertel. Und: „Man kriegt solche Subventionen nur ganz schwer wieder weg.“

Wer Visionen hat ... sollte sie äußern

Bei aller Kritik und allen – noch – bestehenden Defiziten macht Mertel aber eins klar: „Der Kombinierte Verkehr ist ein Erfolgsmodell in Deutschland und ganz Europa.“ Der kombinierte Verkehr Schiene/Straße war in den vergangenen 20 Jahren der Wachstumsmarkt im europäischen Schienengüterverkehr mit dem Ergebnis, dass der Intermodalsektor heute einen Anteil von 35 bis 40 Prozent an der gesamten Transportleistung hat. Zwischen 2025 und 2030 wird der Kombinierte Verkehr nach Mertels Meinung gar die 50-Prozent-Marke überschreiten.

Auf der anderen Seite geht das Aufkommen im Einzelwagenverkehr stetig weiter nach unten. Wohlgemerkt, nicht weil der Kombinierte Verkehr ihm Mengen wegnimmt, sondern weil das Leistungsprofil fast nur noch für unsensible Güter passt. Mertel schätzt, dass es dieses Produktionssystem, dessen Marktanteil bereits unter 30 Prozent gesunken sein dürfte, in der heutigen Form 2030 nicht mehr geben wird – „es sei denn, dass einige Regierungen ihn weiter in großem Stil subventionieren“.

In krassem Gegensatz zu der relativen Bedeutung der beiden Produktionssysteme stehen laut Mertel die Aufmerksamkeit und die Sorge, die dem Einzelwagenverkehr geschenkt werden. „Heerscharen von Mitarbeitern bei Eisenbahnen, Behörden und Verbänden und in der Forschung kümmern sich um diesen Sektor, nur ein kleiner Bruchteil davon um die intermodale Branche“, kritisiert er. Man frage nur einmal die UIRR, in welchen EU-Ländern sie in den Verkehrsministerien eigenständige, für den Kombinierten Verkehr verantwortliche Ansprechpartner hat. Deutschland und Österreich stehen da fast allein. Bei der EU-Kommission gar ist der KV nicht im Landverkehr, sondern unter dem Maritimen Verkehr angesiedelt!

Nun ist auch Mertel klar, dass am Einzelwagenverkehr viele Beschäftigte (und Wähler) hängen. Dennoch werde man um eine Reorganisation des Systems beziehungsweise einer Überführung der Mengen in marktfähige Produktionsformen wie den Kombinierten Verkehr auf Dauer nicht herumkommen. „Wenn man zu lange an Auslaufmodellen klebt und nicht erkennt, dass andere wettbewerbsfähiger sind oder mit neuen Technologien den Markt aufmischen, wird das Ende umso brutaler sein“, warnt er.

Die Zukunft des Schienengüterverkehrs in Europa wird nach Mertels Ansicht hauptsächlich intermodal sein – neben innovativen Wagenladungsverkehren. Er fordert deshalb, endlich der intermodalen Branche die Bedeutung zu geben, die sie verdient. Um eine Analogie aus der Industrie zu bemühen: „Die Aufmerksamkeit und die Mittel sollten vom Rust Belt (Rostgürtel), dem Einzelwagenverkehr, auf das Silicon Valley des Schienengüterverkehrs, den Kombinierten Verkehr, geleitet werden.“

Ob diese Vision Wirklichkeit wird? Der 66-Jährige wird das aus dem Ruhestand erleben: Rainer Mertel scheidet Ende dieses Jahres aus dem aktiven Berufsleben aus.

Railfreight Corridors sind zu bürokratischen Monstern degeneriert.
Rainer Mertel, langjähriger Geschäftsführer Kombiconsult

Rainer Mertel

Der Diplom-Volkswirt arbeitet seit nahezu 40 Jahren in der Logistikwirtschaft. Er war Geschäftsführer des Beratungshauses Kombiconsult GmbH von der Gründung im Dezember 2000 bis zum 30. Juni 2020. Nach sieben Jahren bei der Studiengesellschaft für den kombinierten Verkehr wechselte Mertel 1988 zu Kombiverkehr, wo er Ressorts in Marktforschung, Projektmanagement, Werbung und PR verantwortete, zuletzt als Leiter Marketing.

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