Cargobeamer will mehr Güter von der Straße auf die Schiene bringen 21/05/24
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Löst dieses Unternehmen das Lasterproblem?
Von Thiemo Heeg
Gebeamt wird eigentlich erst im 23. Jahrhundert, wenn Captain Kirk mit seinem Raumschiff Enterprise die unendlichen Weiten des Weltraums erkundet. Schon heute will ein Unternehmen zwar keine Menschen, aber immerhin Waren und Produkte „beamen“. In weniger als einer halben Stunde einen kompletten Güterzug beladen und entladen: Dieses Versprechen gibt die in Leipzig ansässige Cargobeamer AG ab. Auch wenn Cargobeamer keine Sofortreaktion à la Enterprise schafft: Verglichen mit den mehr als vier Stunden, die es normalerweise dauert, einen 750 Meter langen Güterzug abzufertigen, kommt diese zeitliche Umladeleistung einem kleinen Quantensprung nahe.
Den Praxistest hat Cargobeamer im Grundsatz schon bestanden. Man arbeitet mit einer Technologie, die Firmenchef Nicolas Albrecht als etwas betrachtet, das die träge Branche aufmischen soll: „Im Schienengüterverkehr hat es seit 40 Jahren keine Innovationen mehr gegeben. Damals war es die Verladung von Containern auf die Schiene, heute ist es Cargobeamer.“
Das Unternehmen setzt im kombinierten Verkehr an, an der Schnittstelle zwischen Straße und Gleis. In speziellen Umschlagterminals mit Straßen- und Schienenanschluss werden komplette Lastwagen-Sattelauflieger, die unter anderem Container transportieren, verladen. Das Ganze geschieht in fünf Schritten und ohne Wartezeit, verspricht Cargobeamer. Kernpunkt ist das Be- und Entladen: „Nach Einfahrt des Zuges erfolgt automatisiert und parallel die Beladung mit den Sattelaufliegern, während die ankommenden Auflieger auf die gleiche Weise abgeladen werden“, heißt es auf der Homepage. Für einen kompletten Zug mit bis zu 38 Lkw-Einheiten dauere dieser Prozess nur 20 Minuten.
Ambitionierte Wachstumszahlen
Die Technik selbst geht auf Ideen zurück, die bis in die 1990er Jahre zurückreichen. Der Maschinenbauingenieur Hans-Jürgen Weidemann, der seinerzeit für den Schweizer Elektrotechnikkonzern ABB arbeitete, entwickelte gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Baier die neue Verladetechnologie. 2003 gründeten die beiden dann ihr Unternehmen, doch es dauerte noch Jahre von der Entwicklungs- und Prototypenphase bis zu einem ersten Waggon und einem Werksterminal. Von 2013 bis 2016 lief ein Cargobeamer-Pilotprojekt gemeinsam mit Volkswagen. 2015 wurde die erste regelmäßige Verkehrsverbindung von der niederländischen zur italienischen Grenze in Betrieb genommen. 2021 ging im französischen Calais das erste vollständige Cargobeamer-Terminal in Betrieb.
Nun plant das Unternehmen, richtig durchzustarten. Vorstandschef Albrecht, der 2022 Weidemann ablöste – der Gründer arbeitet weiterhin als Technikchef –, nennt im Gespräch mit der F.A.Z. äußerst ambitionierte Wachstumszahlen. Bis 2032 will man in ganz Europa über 18 Terminals verfügen, 3500 Wagen betreiben, 50 Routen quer durch Europa bedienen und einen Umsatz von zwei Milliarden Euro erzielen.
Derzeit umfasst das regionale Portfolio neben dem komplett automatisierten Umschlagplatz am Ärmelkanal zwei weitere im Ausbau befindliche Standorte. Es handelt sich um Kaldenkirchen bei Venlo nahe der niederländischen Grenze und Domodossola an der schweizerisch-italienischen Grenze. Beide günstig gelegen, um die Güterrennstrecke entlang des Rheins von den Nordseehäfen über die Alpen nach Italien optimal zu bedienen. Allein in Domodossola sollen künftig bis zu 185.000 Lastwagentrailer jährlich von der Straße auf die Schiene verlagert werden. Weitere Terminals kann sich Albrecht in Rostock und in Dresden vorstellen, im spanisch-französischen Gebiet um Barcelona und Perpignan, im belgischen Zeebrugge an der Nordsee und in Polen.
Amazon ist einer der Kunden
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Für dieses Jahr soll mit 110 Mitarbeitern und 450 Wagen ein Umsatz von etwas mehr als 50 Millionen Euro erzielt werden. Binnen acht Jahren müssten sich die Erlöse also den Planungen entsprechend in etwa vervierzigfachen. Völlig illusorisch? Einige illustre Geldgeber zumindest glauben an das Wachstumspotential. Zu ihnen gehörten und gehören Mitglieder der Unternehmerfamilien Dornier, Flick, Klatten, Schwarz und Wacker ebenso wie der Investor Hans Albrecht. Der Vater von Vorstandschef Nicolas Albrecht hat mit seinem Family Office, also dem Investmentvehikel der Familie, seit 2008 50 Millionen Euro in das Projekt gesteckt. Der Familie, die nichts mit den Aldi-Albrechts zu tun hat, gehört damit rund ein Drittel des Unternehmens.
Nun hat Cargobeamer abermals erhebliche Millionensummen im Umfeld einer sogenannten Serie-B-Finanzierungsrunde eingeworben. „Von öffentlichen und privaten Investoren haben wir insgesamt 140 Millionen Euro erhalten“, sagt Nicolas Albrecht. 90 Millionen Euro davon steuert die öffentliche Hand bei, durch staatliche Förderungen seitens des deutschen Eisenbahn-Bundesamtes und des Schweizer Bundesamtes für Verkehr. Weitere 50 Millionen Euro kommen von privaten Investoren, angeführt von den „Nordwind Ventures“ der Albrecht-Familie. „Dass nun in großem Maße öffentliche Gelder in Cargobeamer fließen, ist ein großer Beleg für die Bedeutung unserer Technologie – und ein zusätzliches starkes Argument im weiteren Fundraising-Prozess“, sagt Vorstandschef Albrecht.
Zu den Kunden von Cargobeamer gehört unter anderen der Onlinehändler Amazon. Auf ihn ist man in Leipzig besonders stolz. „Amazon will weiter mit uns wachsen und Routen bauen“, sagt Albrecht. Geplant sei, binnen fünf Jahren 40- bis 50-mal mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen als heute. „Früher sagte Amazon: Schiene geht nicht. Wir demonstrieren heute, dass es klappt. Wir sind Amazons Rail-Carrier of choice.“ Der „bevorzugte Schienentransporteur“ hat für die Amerikaner im vergangenen Jahr 4000 Lastwagen-Sattelauflieger befördert, vor allem auf der Strecke zwischen Italien und Deutschland. Und das Unternehmen Cargobeamer hat sogar einstige Amazon-Topleute angezogen – wie Boris Timm, der seit 2022 Vorstandsmitglied ist und für den Internethandelskonzern den Verkehrsbereich Schiene managte.
„Jetzt ist die Zeit, wo die Karten verteilt werden“
Bei allem Optimismus: Cargobeamer ist längst nicht das einzige Unternehmen, das seine Hoffnungen auf den kombinierten Verkehr setzt. Das Onlineportal Intermodal Info listet allein für die horizontale Verladung, die auch Cargobeamer nutzt, sechs Technologien auf, darunter die „Rollende Landstraße“. Anfang April sorgte das 2018 gegründete Unternehmen Helrom für Aufmerksamkeit, als es einen Ganzzug für Audi aufs Gleis setzte. Es wirbt damit, Lastertrailer auch ohne Verladeterminals auf die Schiene zu bringen.
Nicolas Albrecht hält naturgemäß die eigene Lösung für die beste. Im Gegensatz zu Cargobeamer biete die Konkurrenz keine skalierbaren Lösungen, profitiere also nicht von Größenvorteilen. Der Markt wiederum sei riesig, allein in Europa schätzt ihn das Cargobeamer-Management in den kommenden Jahren auf 77 Milliarden Euro. Und zuletzt sei das eigene Transportvolumen im Kerngeschäft um 39 Prozent gestiegen, während der Gesamtmarkt in der europäischen Intermodalbranche um rund 14 Prozent geschrumpft sei.
„Jetzt ist die Zeit, wo die Karten verteilt werden“, sagt Albrecht, der einige Jahre für den Bergwerks- und Rohstoffkonzern Glencore vor allem im Südamerikageschäft aktiv war. Dann wollte er „etwas aufbauen, etwas Nachhaltiges machen“. Generell spricht einiges dafür, dass die Albrechts mit Cargobeamer auf den richtigen Zug setzen. Die Klima- und CO2-Diskussion, die von der Politik gewünschte Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene, der geplante Anstieg des Schienengüterverkehrsanteils von 20 auf 25 Prozent in diesem Jahrzehnt – all das kommt den Planungen zugute.
Andererseits kosten der Infrastrukturausbau, neue Terminals und neue Wagen sehr viel Geld. Es ist eine Wette auf die Zukunft, mit ungewissem Ausgang. Noch im Geschäftsbericht 2021 ist von einer „wesentlichen Unsicherheit“ die Rede und davon, dass die „Fortführung der Unternehmenstätigkeit“ auch von der künftigen Finanzierung durch Eigen- oder Fremdkapitalmaßnahmen abhängig sei. Heute formuliert es Nicolas Albrecht so: „Die große Herausforderung ist, noch da zu sein, wenn das Geschäftsmodell fliegt.“